Nur Mercedes war hier nie

Das Hochhaus Billhorner Brückenstraße 40 zeugt noch vom Wirtschaftsboom vor dem Ersten Weltkrieg. Es erwies sich als ungewöhnlich robust und produktiv – wobei es über die Jahre eine chaotisch-kreative Mischung teils exotischer Unternehmen beherbergte.

Niemand würde dieses Haus wegen seiner Schönheit feiern. Aber niemand auch würde ihm ansehen, dass es mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel hat. Nicht zufällig wurde es am Billhorn errichtet, also ganz nah am Mündungsdelta der Bille. Wasser und seine Transportkapazitäten waren für die Gewerbenutzung dieses Gebäudes ursprünglich von entscheidender Bedeutung. Die Adresse Billhorner Brückenstraße weist heute noch darauf hin, dass in der Umgebung mittels mehrerer Brücken und Stege die Elbe und andere Gewässer überquert wurden. Unmittelbar nördlich am Haus entlang verlief der Billhorner Kanal, die tideunabhängige Wasserverbindung zwischen den Deichtorhallen und dem Tiefstack, also zwischen Stadt und Vorstadt.
Denn hier, wo es die stolzen Hamburger Bürger nicht störte, wurde seit dem Wiederaufbau nach dem großen Brand von 1842 das lärmende und potenziell gefährliche Gewerbe angesiedelt: Bleicher und Gerber, Brauer und Färber, Wäscher und Spinner. Die Reichsgründung von 1871, der Zollanschluss Hamburgs von 1888 und die lange Friedenszeit hatten einen Wirtschaftsboom entfacht, den Kolonialwaren und ins Land strömende Rohstoffe am Laufen hielten.

Auch Hamburgs aufblühende Industrie drängte nach Osten, in Richtung Billemündung. Die Stadt machte deshalb, dass sie Land gewann: durch Trockenlegung des Hammerbrooks (Brook = Sumpf) zwischen Altstadt, Hamm und Rothenburgsort. Hier, in der Nachbarschaft von Neubauten wie Wollfabrik und Hafenspeichern mit ihren Rotklinkerfassaden, sollte das Gebäude sieben Stockwerke hoch aufragen.

Das Haus, dessen Baupläne verschollen sind, war als ein multifunktionales „Produktions- und Speicherhaus“ konzipiert. Wahrscheinlich ist, dass hier anfangs Tabakblätter gelagert und gerollt wurden. Tabak war mit dem Wohlstand der Gründerzeit zum Massengenussmittel geworden. Auch die Lagerung und der Zuschnitt von Leder ist naheliegend. Hohe Fenster dienten dazu, so lange wie möglich Tageslicht zur Arbeit nutzen zu können. Ein solches Haus, das eine Menge Maschinen und Material aufnehmen sollte, musste sehr massiv und belastbar sein – und feuerfest. Auch das war eine der Lehren aus dem Großen Brand.

Revolutionäre Bauweise

Daher wählten die Bauherren eine revolutionäre neue Tragwerkstechnik, die in Hamburg erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg Einzug hielt: Eisenbeton- statt Holzkonstruktion. Nicht sehr viele Gebäude sind in der Hansestadt auf diese Weise entstanden, denn schon 1925 wurde sie wieder aufgegeben. Der Handarbeits-Anteil war zu hoch, die Bauweise damit letztlich zu teuer. Dieses Haus aber erhielt dank Eisenbeton eine Tragkraft von 700 Kilonewton pro Quadratmeter – genug, um hier schwere schmiedeeiserne Bearbeitungs-Maschinen aufzustellen und später mit elektrischen Lastkarren durch die Etagen zu fahren. Genau ist es nicht mehr bekannt, aber ungefähr 1914 wurde das Gebäude seinen Nutzern übergeben.
Was heute wie ein Solitär inmitten einer „Verkehrsinsel“ zwischen Schnellstraßen aufragt, war ursprünglich das Eckhaus eines dreieckig angelegten Ensembles durchweg niedrigerer Gebäude, die einen Innenhof umschlossen. Die Angeln des großen Hoftores sind noch vorhanden. Der naheliegende Taufname des Ganzen: „Billehof“. Auf dem höchsten Dach, das heute seit vielen Jahren den Mercedes-Stern trägt, war ein drehbarer Holzkran installiert.

Solange es keinen Lastenaufzug gab, konnten damit Arbeitsmaterialien vom Kanal oder der Straße in die oberen Etagen gehievt und fertige Waren zurück auf die Schute oder den Pferdewagen hinabgelassen werden.

Wie robust dieses Gebäude war, zeigten die katastrophalen Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs: Während sich ringsherum nur verbrannte Erde und Trümmer erstreckten, blieb das Eisenbeton-Hochhaus mit seinen ungewöhnlich massiven Decken und Wänden stehen. Die Lage am Wasser endete, als der Billhorner Kanal in den Fünfzigerjahren mit dem Kriegsschutt verfüllt wurde. Ungefähr zur selben Zeit zog die Lehrwerkstatt der späteren Lufthansa Technik hierher um, die an ihrem Stammsitz ausgebombt worden war. Tatsächlich wurden hier im Haus über die Jahre mehr als 80 junge Menschen an echten Strahlturbinen ausgebildet, mit denen die Nachkriegs-Flugzeuge der Lufthansa ausgerüstet waren.

Lager für magisches Zubehör

Doch die Lufthansa war nicht der einzige außergewöhnliche Gewerbemieter, den das Haus seit Kriegsende eine Zeitlang beherbergt hat. So gab und gibt es ein Tonstudio, wo in den Achtzigerjahren so berühmte Musiker wie Lou Reed ein- und ausgingen. Im ersten Stock war jahrelang nicht nur der Verkauf, sondern auch die Produktion einer Angelbedarfs-Manufaktur. Sie fertigte unter anderem knallbunt lackierte Blinker und Schwimmer für die Angelrute. Die grellen Farben gaben der ganzen Etage ein psychedelisches Flair. Und nicht zuletzt residierte im Haus ungefähr ein Jahrzehnt lang die in Hamburg legendäre Zauberkunst-Handlung Bartl. Einer der letzten Akte dieser 1911 gegründeten Firma spielte hier, wo das „magische Zubehör“ bis Ende der Neunzigerjahre lagerte und für eine Weile wohl auch verkauft wurde.

Nur das Unternehmen, wegen dem heute die meisten Hamburger das Haus kennen, war nie hier einquartiert: Die Daimler AG nutzt die von der Stadtautobahn aus weithin sichtbarer Höhe des Gebäudes lediglich als Werbeträger für ihren Mercedes-Stern. Mieterinnen und Mieter des Hauses sind es gewohnt, dass ab und zu jemand klingelt oder anruft, um sich nach Ersatzteilen für seinen Wagen mit dem Stern zu erkundigen – leider erfolglos. Doch dem Haus hat es nicht geschadet, im Volksmund mit dem weltbekannten Markenzeichen identifiziert zu werden. Seine unverwüstlichen, wenn auch weniger glamourösen Werte strahlen mindestens genauso hell.

© 2021 – Text: Oliver Driesen, Zeilensturm. Recherchen: Rolf Kellner (üNN)

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